»Wenn du eine gute Freundin im Leben hast, dann ist das viel«, pflegte ihre Großmutter immer zu sagen.
Es war ein Rat, der ihr nicht mehr zeitgemäß erschien, doch wollte sie ihre Großmutter nicht belehren. Heutzutage war der Quell an Freunden doch unerschöpflich. In den sozialen Netzwerken knüpfte sie fast täglich neue Freundschaften, ein Klick reichte aus. Auf der ganzen Welt hatte sie Freunde, mit denen sie die schönen und aufregenden Erlebnisse aus ihrem Leben teilen konnte.
An dem Tag, an dem ihre Großmutter starb, hatte sie 1001 Freunde in ihrem digitalen Netzwerk.
Sie verspürte eine innere Leere und es überkam sie eine Traurigkeit, die sie so noch nie erlebt hatte. Zum ersten Mal seit mehreren Jahren postete sie nichts auf ihrer Pinnwand. Negatives hatte dort einfach keinen Platz. Sie fiel in ein tiefes Loch und merkte, dass sie unbedingt mit jemandem außerhalb ihrer Familie über den Tod ihrer Großmutter sprechen musste. Als sie darüber nachdachte, wem sie sich wohl in dieser für sie so unbekannten und schwierigen Situation anvertrauen könnte, fiel ihr nur eine einzige Person ein – ihre beste Freundin, die sie in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt hatte.
Drei Stunden später saßen sie zusammen auf ihrem Bett und weinten so lange, bis sie nicht mehr weinen konnten. Dann begann sie zu erzählen, was ihre Großmutter für eine beeindruckende und weise Frau gewesen war.
Und während sie ihre Freundin dabei anschaute, musste sie auf einmal daran denken, was ihre Großmutter immer gesagt hatte: »Wenn du eine gute Freundin im Leben hast, dann ist das viel.«
Wieder begann sie zu weinen. Erst durch den Tod ihrer Großmutter verstand sie, was dieser Satz wirklich bedeutet.